FAKTENCHECK „MITTAGSMAGAZIN: ORGANE VERZWEIFELT GESUCHT“
Aussagen von Kirsten Kappert-Gonther, Vizevorsitzende des Gesundheitsausschusses, auf dem Prüfstand


2.12.2022 - Am 15. November 2022 gab die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Kirsten Kappert-Gonther, im ARD-Mittagsmagazin ein Interview zum Thema Organspende. Wir haben ihre Aussagen genauer unter die Lupe genommen.

ARD Mittagsmagazin

Moderatorin: Und wir sprechen mit Kirsten Kappert-Gonther, Vizevorsitzende im Gesundheitsausschuss von Bündnis 90/Die Grünen und selbst Ärztin. Sie waren 2020 gegen die Widerspruchslösung. Aber wir haben es ja gesehen: Es fehlt massiv an Organspenden. Hat sich etwas an Ihrer Haltung verändert?

 

Kappert-Gonther: Also wir waren schon lange in Deutschland wirklich im Hintertreffen. Und durch Corona hat sich das tatsächlich jetzt noch mal verschlimmert. Also es ist ein Zustand, mit dem wir überhaupt nicht zufrieden sein können. Wir haben es ja im Beitrag gesehen, wie Frau Knepper das beschrieben hat: Menschen warten…

Von Rafael P. D. Suppmann, CC BY-SA 4.0

FAKTENCHECK

  • Frau Kappert-Gonther beantwortet die Frage der Moderatorin nicht.
  • Deutschland „war“ nicht im Hintertreffen, sondern ist es immer noch: Die Zahlen sind vor allem in den letzten 2 Jahren massiv abgestürzt, Deutschland liegt europaweit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.1
  • Wie Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), beim DSO-Kongress am 3. November 2022 in seinem Vortrag deutlich gemacht hat, kann diese Entwicklung nicht allein auf die Corona-Pandemie zurückgeführt werden.2 Zudem waren die Organspendezahlen im November 2020, also dem ersten Jahr der Pandemie, sogar zunächst – auf niedrigem Niveau – stabil.3

 

1 https://dso.de/organspende/statistiken-berichte/organspende (Abruf: 25.11.2022)

2 DSO-Kongress 2022; Bericht des Vorstandes, 3.11.2022: https://www.dso.de/DSO-Kongress

3 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/organspenden

Moderatorin: Warum haben Sie sich dann dagegen entschieden?

 

Kappert-Gonther: …wirklich händeringend auf ein Spenderorgan und man muss gucken, was unterstützt die Organspende? Und wir sehen auch im europäischen Vergleich - zum Beispiel Dänemark hat deutlich bessere Zahlen als wir, und auch eine Entscheidungslösung. Das war ein sehr, sehr langer Prozess im Deutschen Bundestag mit ethischen Fragestellungen und wir haben identifiziert, was wirklich die Organspendezahlen nach oben bringen würde. Und das sind nämlich entsprechende Strukturreformen, die sind ja auch beschlossen worden. Basis dafür ist das Organspenderegister. Das sollte dieses Frühjahr kommen. Darauf warten wir und das muss jetzt auch umgesetzt werden.  

FAKTENCHECK

  • Im europäischen Vergleich ist es so, dass in 21 von 27 Ländern eine Opt-out-Regelung (Widerspruchsregelung) gilt oder diese eingeführt wird.4 Die Entscheidungslösung in Dänemark und Deutschland ist somit eine Ausnahme. In der Wissenschaft ist dieses willkürliche Herauspicken von Daten, welche die eigene Position stützen, als „Cherry Picking“ verrufen.5 
  • Wenn die Basis für die Strukturreformen das Organspenderegister ist, sind diese demnach blockiert. Das entsprechende Gesetz ist im April 2019 in Kraft getreten und nach aktuellem Stand wird das Organspenderegister nicht vor 2025 zur Verfügung stehen.6,7 Das bedeutet: 6 Jahre lang wird sich in diesem Bereich nichts ändern. Und das heißt auch: In diesem Zeitraum werden weitere 18.000 Menschen auf der Warteliste sterben.
  • „Darauf warten wir.“ – Wer ist „wir“ und wo bleibt die Initiative von Frau Kappert-Gonther als Gesundheitspolitikerin, dies voranzutreiben?

 

4 https://www.organspende-info.de/gesetzliche-grundlagen/entscheidungsloesung (Abruf am 26.11.2022)

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Rosinenpicken

6 https://www.bundesrat.de/DE/plenum/bundesrat-kompakt/19/975/975-pk.html?nn=4352766#top-5

7 DSO-Kongress 2022; Bericht des Vorstandes, 3.11.2022: https://www.dso.de/DSO-Kongress

Moderatorin: Aber Sie sagen ja dann selber gerade, die Reform ist gescheitert, weil, wir sehen ja die Zahlen, die gehen massiv zurück. Wir haben in unserem Beitrag die Frau gesehen, die gesagt hat, es braucht mehr politischen Willen und die Widerspruchslösung, die wäre doch wirklich dann die Lösung, um vielleicht eben die Zahl nach oben zu bringen, oder?

 

Kappert-Gonther: Nein, es ist so: Auch in Spanien, wo wir ja mit dem Gesundheitsausschuss waren, ist nicht der entscheidende Moment, muss man widersprechen oder zustimmen, sondern das Entscheidende ist, dass die Strukturen der Identifikation, der des Erkennens, auch des Entnehmens in den Krankenhäusern deutlich besser laufen. Und die Reform ist so noch nicht gescheitert, sie ist ja noch nicht vollständig umgesetzt.

FAKTENCHECK

  • Die Widerspruchregelung mag in Spanien „nicht das entscheidende Moment“ sein, fakt ist jedoch, dass sie dort Teil eines Gesamtpakets an Maßnahmen ist, die in ihrem Zusammenwirken offensichtlich sehr wirksam sind.8
  • Interessant ist außerdem, dass Frau Kappert-Gonther nicht den Beschluss ihrer Partei Bündnis 90/Die Grünen vom 15.10.2022 erwähnt, wonach die Bundesregierung aufgefordert werden soll, „die Maßnahmen des Gesetzes zur Verbesserung der Strukturen in der Organspende (GZSO), die vor drei Jahren beschlossen wurden, jetzt schnell umzusetzen und um eine Widerspruchsregelung zu ergänzen, um das Sterben auf der Warteliste zu beenden“.9

 

8 https://www.drze.de/im-blickpunkt/organtransplantation

9 https://antraege.gruene.de/48bdk/widerspruchslosung-in-der-organspende-implementieren

Moderatorin: Aber es fehlt ja jeder Tag fürs Leben und wir haben ja gesehen, dass die Spendenbereitschaft der Deutschen ja sehr hoch ist, aber kaum oder weniger als die Bereitschaft da ist, trägt ein Organspendeausweis mit sich. Wie wollen Sie denn eben die Bereitschaft dazu mit dem Organspendeausweis vorantreiben, wenn es selbst am Onlineregister scheitert?

 

Kappert-Gonther: Das scheint schwieriger zu sein, das Onlineregister umzusetzen, als das vermutet worden war. Ich warte da selber sehr, sehr ungeduldig darauf, dass es umgesetzt wird. Was stimmt, ist, dass die Bereitschaft, ein Organ zu spenden, höher ist als die Personen, die einen Organspendeausweis haben. Es haben aber auch sehr viele Menschen einen Organspendeausweis und es wird trotzdem in den Kliniken dann nicht entsprechend identifiziert. Da würde ein Organspenderegister deutlich helfen. Was schon geholfen hat, was auch umgesetzt wurde, ist, dass beispielsweise die Transplantationsbeauftragen jetzt freigestellt wurden. Es gibt also schon Schritte, die in die richtige Richtung reichen. Was jetzt tatsächlich in diesem Jahr das Problem war, ist, dass, wir hatten eine Verordnung, dass Corona-Infizierte keine SpenderInnen sein dürfen. Das hat sich im Nachhinein herausgestellt, dass es nicht notwendig gewesen wäre für die Sicherheit. Also das ist besser geworden und die Infrastruktur in den Kliniken hat sehr gelitten unter der Corona-Pandemie. Wir gehen davon aus, wenn diese Reform jetzt umfassend umgesetzt ist, dass dann glücklicherweise endlich die Organspendezahlen auch nach oben gehen.

FAKTENCHECK

  • Aus anderen Ländern ist bekannt, dass es eine große Diskrepanz zwischen der Bereitschaft zur Organspende (>90%) und dem tatsächlichen Eintrag in ein Register (<40%) gibt.10 In der Schweiz haben sich seit dem Inkrafttreten des Registers 2018 nur 1,5% der Bevölkerung eingetragen. Laut Swisstransplant wird das Register nun eingestellt.11,12
  • Angesichts eines Rückgangs der Organspenden um 10% lässt sich wohl kaum behaupten, dass die Freistellung der Transplantationsbeauftragten „schon geholfen hat“.
  • Die DSO stellte auf ihrem Jahreskongress fest: „Organspendezahlen entwickeln sich nicht wie erhofft – Reformen zeigen kaum Effekte“.13

 

10 Sharif et al. Interventions for Organ Donor Registration: Good Intentions, Bad Actions. AJKD 2021

11 https://www.swisstransplant.org/de/infocenter/media-corner/medienmitteilungen

12 https://www.medinside.ch/neue-widerspruchsloesung-auf-unbestimmt-verschoben

13 https://dso.de/SiteCollectionDocuments/Pressemeldungen

Moderatorin: Jetzt gucken wir aber auch noch mal auf die Angehörigen, also die, die keinen Organspendeausweis mit sich tragen, da müssen dann die Angehörigen entscheiden. Wäre hier nicht auch die Widerspruchslösung auch im Sinne der Angehörigen eine richtige Alternative zum Organspendeausweis?

 

Kappert-Gonther: Wer sich zu Lebzeiten nicht entschieden hat, muss auch in allen Ländern, wo die Widerspruchsregelung gilt, da müssen auch die Angehörigen entscheiden, weil irgendjemand muss es ja tun. Also in Spanien werden die Angehörigen beispielsweise auch gefragt. Wichtig ist tatsächlich, dass jede Person einen Organspendeausweis bei sich trägt. Und da kann man ja auch notieren, möchte ich, dass im Falle meines Todes meine Organe weiterverwendet werden oder möchte ich das nicht. Ein Organspendeausweis ist also für jede Person wichtig und was sehr wichtig ist auch: Manche Menschen denken, es gibt eine Altersgrenze nach oben, wann man Organe spenden kann. Das ist nicht der Fall und man kann auch festlegen, welche Organe man spenden möchte. Beispielsweise die Hornhaut kann bis ins hohe Alter richtig helfen, für andere Menschen kaputtgehen.

FAKTENCHECK

  • Frau Kappert-Gonther bestätigt, dass in Spanien die Angehörigen gefragt werden, sofern eine Person sich zu Lebzeiten nicht geäußert hat. Genau dies war im 2020 vorgeschlagenen Entwurf einer doppelten Widerspruchsregelung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgesehen.14
  • Frau Kappert-Gonther negiert den elementaren Unterschied in der Fragestellung bei der Zustimmungsregelung bzw. bei der Widerspruchsregelung. Die Fragestellung an die Angehörigen bei der Zustimmungsregelung lautet: „Wissen Sie, wie Ihr verstorbener Angehöriger zu einer Organspende stand?“ Da dies in den meisten Fällen unbekannt ist, türmen sich den Angehörigen beliebig viele Fragen mit beliebig vielen Antworten auf. Bei der Widerspruchsregelung lautet die Frage: „Wissen Sie von einem Widerspruch zur Organspende Ihres verstorbenen Angehörigen?“ Es gibt drei mögliche Antworten: „Ja“, „Nein“, „Nein, wir lehnen dennoch eine Organspende ab.“


14 https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2019/widerspruchsloesung.html

ZUSAMMENFASSUNG

Kirsten Kappert-Gonther nimmt die (traurigen) Fakten weiterhin nicht zur Kenntnis: Die Gesetze zur Verbesserung der Organspendesituation in Deutschland sind gescheitert. Die von ihr zur Schau getragene Betroffenheit bleibt ein Lippenbekenntnis. Sie „wartet“ auf die Umsetzung von Reformen, die sich als unzureichend oder nicht umsetzbar erwiesen haben. Von ihr selbst sind keine Initiativen bekannt, diesen Prozess voranzutreiben. Den Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz ihrer eigenen Partei zur Einführung einer Widerspruchsregelung ignoriert sie; alles, was sie vorträgt, ist ihre subjektive Meinung. Von Fehlerkultur und Hilfe für die Betroffenen keine Spur.

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