27. 2.2023 - Zahlreiche PatientInnenverbände, medizinische Fachgesellschaften und hochrangige Mediziner*innen fordern in einem offenen Brief an die GesundheitsministerInnen des Bundes und der Länder sowie die Abgeordneten des Deutschen Bundestags eine grundlegende Reform der deutschen Transplantationsgesetzgebung. Anlass ist das Scheitern des vor 3 Jahren verabschiedeten Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende.
„Drei Jahre nach Abstimmung des Bundestages über die neue Gesetzgebung beklagen wir weitere 3.000 Verstorbene auf der Warteliste, die hätten gerettet werden können. Statt der erhofften Verdopplung der Organspendezahlen erleben wir einen schlimmeren Absturz als je zuvor“, so das ernüchternde Fazit von Mario Rosa-Bian, Vorstand der I.G. Niere NRW e.V. „In einem der reichsten Länder der Welt gelingt es nicht, die betroffenen PatientInnen medizinisch angemessen zu versorgen“, kritisieren die Initiator*innen weiter.
„Dass jeder vierte Patient, jede vierte Patientin, auf der Warteliste in Deutschland stirbt, darf nicht länger hingenommen werden. Der deutsche Irrweg in der Organspendepolitik ist endgültig in eine Sackgasse geraten. Wir fordern eine radikale Umkehr. Was in anderen europäischen Ländern erfolgreich praktiziert wird, muss endlich auch in Deutschland Standard werden. Auch wir Wartepatient*innen haben ein Recht auf Leben“, unterstreicht Zazie Knepper von der Initiative „Menschen auf der Warteliste bei Eurotransplant“.
Die über 50 UnterzeichnerInnen des Briefes - darunter auch europäische Patient*innenorganisationen und Fachgesellschaften - fordern, umgehend fünf Maßnahmen umzusetzen:
1. Doppelte Widerspruchsregelung
Die Bevölkerung und die Anhänger aller demokratischen Parteien stünden mehrheitlich hinter einer Widerspruchsregelung (WSR). Ein solches Opt-out-Modell sei kostengünstig, stärke die PatientInnenautonomie und entlaste die Angehörigen, heißt es in dem Brief. In 29 von 35 europäischen Ländern gelte es bereits oder werde es eingeführt. Es sei nicht nachvollziehbar, dass Deutschland hunderte Organe pro Jahr aus den Eurotransplant-Partnerländern mit WSR „importiere“, ohne die Bedingungen im eigenen Land entsprechend anzupassen. Die Verfasser verweisen auch darauf, dass Bündnis 90/Die Grünen auf ihrem Bundesparteitag im Oktober 2022 beschlossen haben, die WSR auch in Deutschland einzuführen. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) spreche sich angesichts der katastrophalen Situation ebenso dafür aus wie der Bundesverband Niere e.V, alle relevanten medizinischen Fachgesellschaften und der Nationale Ethikrat. Die WSR war auch in Spanien die Basis für alle darauf aufbauenden strukturellen Maßnahmen.
2. Reform der Organisations-Strukturen und Prozesse in der Organspende
Die zentralen Probleme des deutschen Gesundheitssystems wirkten sich auch auf die Organ- und Gewebespende aus, so die Vertreter von ProTransplant. Aus Sicht der Transplantationsbeauftragten stünden Personalmangel in der Pflege und bei den Ärztinnen und Ärzten sowie fehlende Kapazitäten an Intensivbetten ganz oben auf der Liste der Ursachen für die Missstände. Diese Defizite seien so gravierend, dass nicht immer die Möglichkeit einer Organspende geklärt werde, eine aussichtlose Prognose zur vorzeitigen Therapielimitierung führe und die verbesserte Vergütung von Organentnahmen nicht greife. Die Erkennung möglicher Spender mithilfe digitaler Tools (z.B. DETECT-Programm) müsse Teil der Routineversorgung werden.
3. Organspende nach Kreislauftod
In Deutschland sind Organspenden nur nach Hirntod möglich. In den meisten anderen europäischen Ländern kann auch nach Kreislauftod gespendet werden, was dort zu einem Anstieg der Organspenden geführt habe. Es sei eine „paradoxe Situation“, dass Organe von Menschen, die aufgrund von Kreislauf-Versagen gestorben sind, deutschen Wartepatient*innen von Eurotransplant nicht vermittelt werden dürfen, kritisieren die InitiatorInnen. Der Kreislauftod als Kriterium gelte bereits in 17 europäischen Ländern, in 8 Ländern sei die Einführung geplant.
4. Crossover- und Ketten-Lebendspende
Die Crossover-Lebendspende müsse - wie in den europäischen Nachbarstaaten - endlich auch in Deutschland etabliert werden, lautet eine weitere Forderung. Wenn eine Lebendorganspende zwischen Personen, die Organe spenden dürfen, aus medizinischen Gründen nicht infrage kommt, solle es ermöglicht werden, ein solches Spender-Empfänger-Paar mit weiteren geeigneten Paaren anonym zusammenzubringen und Lebendorganspenden kreuz- und kettenweise durchzuführen.
5. Altruistische Organspende
Lebendspenden einer Niere sind in Deutschland auf einen eng gefassten familiären oder Freundes-Empfängerkreis beschränkt. Bei einer altruistischen Spende wäre es möglich, dass eine Person eine Niere freiwillig und unentgeltlich an eine unbekannte Person spendet.
Politischen Willen zeigen
Die Unterzeichner*innen fordern angesichts der hohen Organspende-Bereitschaft in der Bevölkerung auch von den Politiker*innen im Parlament Haltung.
"Wer von Ethik spricht und seit Jahrzehnten tatenlos zusieht, wie jeden Tag drei Patient*innen auf der Warteliste sterben, handelt nicht ethisch“, so Christian Scheidler von ADTKD Vision Cure. „Die Politik muss endlich einen Paradigmenwechsel vollziehen, indem sie das von der breiten Mehrheit der Bevölkerung und von allen relevanten Expert*innen befürwortete Maßnahmenpaket gesetzgeberisch beschließt.“
Zum vollständigen offenen Brief: